Unternehmenskultur

Nur mittags Meetings oder: Das „Daily Café“ in der webfactory

Vor einem knappen Jahr haben wir über unseren Besprechungs-Stundenplan berichtet. Inzwischen haben wir uns auf einen neuen Rhythmus umgestellt, der radikal einfach ist: Es gibt pro Woche 5 interne Meetings, und zwar jeden Tag um 12 Uhr.

Artikel von: Sebastian
Veröffentlicht am: 2021-09-10

Ihr erinnert euch vielleicht: Wir kamen von einem Stundenplan, der Dienstags bis Freitags um 9:45 Uhr ein Daily Standup vorsah. Zusätzlich gab es Montags um 9:45 Uhr ein Wochenplanungsmeeting und Freitags um 14:30 Uhr einen Wochenrückblick; das Freitagsmeeting wurde außerdem zur Besprechung der Themen genutzt, die eine:r aus dem Team gerne mit allen besprechen wollte.

Dieses Modell hatte sich über Jahre bewährt, trotzdem gab es das Bedürfnis nach Veränderung:

Zum einen hatte sich in unserer Mitarbeiter-Zufriedenheitsumfrage herausgestellt, dass die Besprechungstermine nicht für alle Kolleg:innen gut zu ihrem Biorhythmus passten. Besonders das Standup um 9:45 Uhr setzte einen Fixpunkt zum Beginn des Arbeitstages, der für einige früher lag, als sie eigentlich anfangen wollten. Die Kolleg:innen hatten also nur die Wahl, das Standup zu verpassen, oder für das Standup früher aufzustehen, als sie eigentlich wollten.

Zum anderen war die allgemeine Besprechung am Freitagnachmittag zunehmend unbeliebt. Genauer gesagt: Der Wochenrückblick mit Vorstellung der besonders erwähnenswerten abgeschlossenen Aufgaben ("Spotlights in der Done-Spalte") funktionierte gut, aber für die ausgiebige Besprechung weiterer Themen war es den Frühaufstehern im Team dann schon zu spät; die Besprechungszeit lag zudem unmittelbar vor dem Wochenende – was dazu führte, dass Elan und Energie für komplizierte Themen häufig nicht mehr ausreichten.

Als ersten Schritt zu einem neuen Meeting-Zeitplan haben wir eine Teamumfrage gemacht. Jeder war eingeladen, seinen persönlichen Chronotyp zu bestimmen und anschließend anzugeben, wie viel Schlaf er braucht, wann er aufstehen und ins Bett gehen möchte, wann er sich am produktivsten fühlt und in welche Stunden des Tages er am liebsten seine Arbeitszeit legen würde. Ergebnis: Einige wollten sehr früh anfangen und früh aufhören zu arbeiten, andere am liebsten erst um 12 Uhr Mittags anfangen und bis in den Abend arbeiten.

Der Zeitpunkt 12 Uhr lag bei fünf Kollegen innerhalb der gewünschten Arbeitszeit und bei den restlichen fünf sehr nah dran. Zugleich war er bei den wenigsten mitten in einem produktiven Zeitfenster; bei einigen war es der gewünschte Arbeitsbeginn und bei anderen lag er kurz vor der Mittagspause.

Wir haben daher diesen Zeitpunkt als guten Meetingtermin identifiziert und als erstes Experiment für einen Zeitraum von einem Monat versucht, unser Daily Standup auf 12 Uhr zu verschieben. Für die meisten derjenigen, die ihren Arbeitstag nicht erst um 12 Uhr beginnen wollten, fühlte es sich aber nicht gut an, sich zur Halbzeit des Tages und unmittelbar vor der Mittagspause zu der Frage auszutauschen, "was habe ich für heute vor?". Daher haben wir als nächsten Schritt ungefähr einen Monat lang ausprobiert, ein Standup zur alten Zeit um 9:45 Uhr zu machen und ein zweites Standup um 12 Uhr. Jedem war freigestellt, ob er gar nicht, an einem der beiden oder an beiden Standups teilnehmen wollte. Das Ergebnis war eine ziemlich klare Trennung im Team: Diejenigen, denen das 9:45-Uhr-Standup gut passte, trafen sich um 9:45 Uhr. Diejenigen, die länger schlafen wollten, trafen sich um 12 Uhr. Einen Austausch zwischen den Gruppen gab es kaum.

Schließlich brachte uns eine Google-Suche nach „Standup Times Diversity“ zu einem Artikel mit dem Titel Daily Meetings with Remote Teams (Stand-ups Don’t Work, But Daily Cafes Do). Dort wird – vor dem Hintergrund einer ähnlichen Situation, was die Arbeitzeiten angeht – ein tägliches „Café“ als Alternative zu Standup-Meetings vorgestellt.

Die Idee fanden wir so gut, dass wir sie ausprobieren wollten. In unserem 3-Personen-Projektteam haben wir uns dann ausführlich Gedanken gemacht, wie ein solches Format bei uns funktionieren könnte und welche Risiken bestehen. Das Meeting sollte sich einerseits nicht überflüssig anfühlen, andererseits aber auch nicht zu lang werden.

Wir haben während der Planungsphase in einer Teamumfrage erfragt, wie das Team zu unseren "Ankoppel-Runden" steht, mit denen wir bisher schon Montags und Freitags die größeren Meetings begonnen hatten (was das genau ist, erfahrt ihr gleich). Die Antwort war sehr positiv, sodass wir uns entschieden haben, dass eine solche Runde auch Bestandteil des neuen Mittags-Meetings sein sollte.

Wir sind zu folgendem Konzept gekommen:

  • Die Meetings haben eine Timebox: Sie sollten maximal 30 Minuten dauern.

  • Die Teilnahme ist freiwillig. Essen und Trinken während des Meetings ist willkommen.

  • Teammitglieder können Themen einbringen. Diese sollten vorab per Mail angekündigt werden, damit jeder, der sich für das Thema interessiert, teilnehmen kann. Insbesondere gilt dies natürlich, wenn eine Entscheidung getroffen werden soll.

  • Die Themen werden in der Regel in der Reihenfolge behandelt, in der sie eingebracht wurden (tatsächlich gab es in den letzten drei Monaten selten mehr als ein Thema pro Tag, häufig sogar gar keines).

  • Es gibt eine "Ankoppel-Runde", in der jeder reihum kurz die Frage "Wie bin ich hier?" beantwortet (also wie geht es mir gerade, was beschäftigt mich). Dabei fängt ein beliebiges Teammitglied spontan an und nominiert dann das nächste.

  • Am Ende des Meetings machen wir eine Schnellumfrage über das Chatfenster, bei dem jeder auf Kommando, also gleichzeitig, eine Bewertung des Meetings abgibt zwischen 1 ("Zeitverschwendung") und 5 ("Froh, dass ich dabei war"). Diese Umfrage lassen wir aber ausfallen, wenn es kein Thema gab und das Meeting nur aus der Ankoppel-Runde bestand.

  • Es gibt einen Moderator und einen Protokollanten. Außerdem haben wir ein "ELMO-Signal" ("Enough said, let's move on") definiert: Wenn es jemandem zu langsam vorangeht, hält er eine Kaffeetasse, ein Glas oder Ähnliches in die Kamera. Das kam allerdings in den ersten Monaten so selten vor, dass es im Team schon in Vergessenheit geraten ist.

  • Das tägliche Standup haben wir verschriftlicht und in einen Chatkanal #standup verlagert. Das hat den Vorteil, dass es asynchron stattfindet und jeder zu seinem persönlichen Arbeitsbeginn seine Pläne und Wünsche für den Tag dort kommunizieren kann.

Die Ankoppel-Runde war ursprünglich für den Beginn des Meetings geplant. Wir haben sie aber inzwischen ans Ende gestellt, da wir den Eindruck hatten, dass sich in dieser Runde auch Gesprächsthemen für allgemeinen Austausch ("Socializing") ergeben. Dadurch, dass die Runde jetzt am Ende stattfindet, müssen wir diesen Austausch dann nicht für das Besprechungsthema des Tages abbrechen, sondern geben dem Team die Möglichkeit, auf Wunsch "open end" weiterzusprechen.

Wir haben dann festgestellt, dass das neue Meetingformat sogar flexibel genug ist, um unsere Montags-Wochenplanungs-Besprechung und unsere Freitags-Wochenrückblicks-Besprechung mit aufzunehmen. Montags haben wir also das feste Thema "Termine der Woche und Überblick über die Doing-Spalte" und Freitags das feste Thema "Spotlights der Woche in der Done-Spalte". Dienstags bis Donnerstags sind die Termine frei für andere Themen.

Insgesamt funktionieren die Besprechungen sehr gut. Sie dauern Montags meist um die 20 Minuten, Freitags eher 30 Minuten und Dienstags bis Donnerstag ist es sehr unterschiedlich, abhängig davon, wie viele da sind und ob es Themen gibt. Häufig sind wir nach 5-10 Minuten fertig; als wir letztens eine Präsentation und anschließenden Austausch zum Konzept für die Überarbeitung der webfactory.de-Startseite hatten, haben wir uns 45 sehr kurzweilige und ergebnisreiche Minuten genommen.

Erstaunlich schwer fand ich die Umstellung vom alten Rhythmus auf den neuen Rhythmus, da wir natürlich das ganze Team damit zufriedenstellen wollten. Ein Mehrheitsentscheid schied daher aus; er hätte wahrscheinlich sogar zu einem Votum für 9:45 Uhr auf Kosten der Spätaufsteher geführt. Wir haben daher sehr viel mit Online-Umfragen gearbeitet und z. B. während des Experimentzeitraums für die Mittagsmeetings jede Woche eine Standardumfrage zur Zufriedenheit mit den Meetings dieser Woche gemacht. Die Zufriedenheit war von Beginn an sehr hoch, obwohl es immer auch wortstarke Skeptiker gab, die den alten Zeitplan klar bevorzugten.

Nachdem wir 3 Monate experimentell mit den 12 Uhr-Meetings gearbeitet hatten, haben wir schließlich einen Teamentscheid vorbereitet, indem wir eine abschließende Widerstandsabfrage durchgeführt haben. Jeder konnte auf einer Skala von 0 (niedrigster Widerstand) bis 10 (höchster Widerstand) angeben, wie groß sein innerer Widerstand gegen eine Rückkehr zum alten Besprechungs-Stundenplan ist und wie groß sein Widerstand gegen die neuen Mittags-Meetings ist. Das Meinungsbild war sehr eindeutig: Gegen den alten Zeitplan hatten viele eher mittlere bis große Widerstände, gegen das neue System gab es fast keinen Widerstand; die schlechtesten Bewertungen lagen bei 5 von 10 möglichen Widerstandspunkten bei zwei Personen.

Hier die Ergebnisse im Diagramm:

Der Widerstand gegen den alten Zeitplan (oben) war erheblich größer als gegen den neuen Zeitplan (unten)

Auf Basis dieser Umfrage war es dann leicht, einen Konsententscheid zu treffen: Es gab keinerlei Einwände gegen eine formale Beendigung des Experiments und die dauerhafte Umstellung auf das neue System.

Die neue Flexibilität des Arbeitsbeginns schätze ich persönlich sehr und die Meetings sind in meiner Empfindung insgesamt sehr viel besser und energetischer geworden. Auch wenn es sich anfangs für einige merkwürdig anfühlte, die gemeinsame Arbeitswoche erst am Montagmittag zu beginnen, und für andere ebenso merkwürdig, sie schon am Freitag um 12:30 Uhr zu beenden, hat sich das Konzept aus meiner Sicht sehr bewährt. Insgesamt gibt es eher selten konkrete Besprechungsthemen Dienstags bis Donnerstags, aber die Tatsache, dass wir drei feste Besprechungstermine haben, die wir für solche Themen nutzen können, und dass die Themen damit nicht zwischen Wochenrückblick und Wochenende besprochen werden müssen, hat die Qualität und das Energielevel der Diskussionen deutlich verbessert.

Die täglichen Meetings mit Ankoppel-Runde haben für uns zudem etwas mehr sozialen Austausch in die Remote-Arbeitswelt gebracht. Denn das tägliche Standup war rein arbeitsbezogen und technisch; eine Frage "Wie geht's mir" hatten wir vorher nur Montags und Freitags in den Besprechungen.

Die Anwesenheit ist wechselnd, aber generell eher hoch (> 75%) – insbesondere, wenn Themen besprochen werden, sind häufig fast alle da. Montags und Freitags liegt die Anwesenheit bei nahe 100% (Urlaube, Krankheiten, wichtige Termine natürlich ausgenommen).

An dieser Stelle möchte ich einen Dank aussprechen an Lucie Lewandowski, die uns als Organisationsentwicklerin im Rahmen eines Beratungsprojekts im Förderprogramm "unternehmensWert: Mensch" vor vielen Jahren mit soziokratischer Entscheidungsfindung vertraut gemacht hat und über die wir auch das Ankoppeln zum Beginn einer Besprechung kennen- und schätzen gelernt haben.

Dank auch an meine Kollegen Eva und Malte, mit denen ich das hier vorgestellte Konzept gemeinsam entwickelt und eingeführt habe.

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